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Gemeinderat, 39. Sitzung vom 24.11.2008, Wörtliches Protokoll  -  Seite 121 von 130

 

Mag Gerstl unterscheiden will.

 

Primär drängt sich jedenfalls mir angesichts dieses weltbedrohlichen Szenarios die Frage auf: Wie sozial ist der Markt? Oder präziser gesagt: Wie weit kann der Markt per se sozial sein, oder mündet er in der derzeitigen Ausformung in Europa und in der Welt nicht zwangsläufig in massivste Konzentrationen, in totale Verdrängungen, in Wohlstandsverzerrungen, in elementare Ungleichheit, Prekarisierung und Wachstum der Arbeitslosigkeit? Bedarf es noch deutlicherer Beweise als der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise mit Zusammenbrüchen von Hypotheken- und Investitionsbanken – vor allem in den USA sind es derzeit schon 17 Kreditinstitute –, weltweit gefährdeten Versicherungen und bodenlosen Wertverlusten an allen Börsen dieser Welt? Immer gigantischere Geldmengen wurden weltweit immer rascher und vor allem spekulativ gehandelt, auf alles und jedes – verhängnisvollerweise auch auf sinkende Kurse – konnte casinomäßig gewettet werden. Ein Megacrash war letztlich die unausweichliche Folge.

 

Kollege Gerstl! Ich sage Ihnen, ob es Ihnen passt oder nicht: Auf den Punkt gebracht kann man sagen, dass der Turbokapitalismus mit seiner Raffgier und Ziellosigkeit an seine Grenzen gestoßen ist. Und siehe da! Wie schaut der Lösungsansatz aus? Überraschend genug für die Vertreter von ÖVP und gleichartig Denkenden: Der viel gelästerte und von den Propheten des Neoliberalismus geschmähte und reduzierte Staat wird plötzlich zum letzten Rettungsanker! Er darf nunmehr die Zeche durch Haftungen und Direktzuschüsse auf Kosten der Allgemeinheit ausgleichen, um noch viel dramatischere Schäden für die Volkswirtschaft abzuwenden. (Zwischenruf von GR Mag Wolfgang Gerstl.) Dazu kann man nur sagen: Möge diese Aufgabe gelingen!

 

Unbeschadet der Ernsthaftigkeit dieses Themas, sei mir dabei ein kleines Quiz gestattet. Horchen Sie zu, Kollege Gerstl, Sie sind jetzt in einen interessanten Denkprozess eingebunden! (Heiterkeit und Beifall bei der SPÖ.)

 

Bei diesem Quiz gilt es, den Autor des nachfolgenden Artikels zu erraten. Der Artikel trägt den Titel „Kein Staat zu machen". Der Text lautet: „Da wurde uns jahrelang erklärt, Staatsbetriebe müssen an die Börse, weil die privaten Aktionäre sind ein Dynamo für das Management. Staatsbetriebe hingegen sind träge, plump, dumm und humorlos. Nun, AUA, Post und Telekom Austria sind an der Börse. Ihre Aktienkurse sind – nicht nur wegen der Finanzkrise – zum Fürchten. Und der Dynamo hat sich als löchriger Reifenschlauch herausgestellt. Tausende Jobs gehen nun verloren, obwohl der schlichte Reim ‚weniger Staat, mehr privat’ jahrelang wie ein wirtschaftspolitisches Vaterunser gebetet wurde.“ (Zwischenruf von GR Mag Wolfgang Gerstl.) Horchen Sie zu, Sie werden dann die entscheidende Frage beantworten! Horchen Sie mir bitte zu!

 

„Es zeigt sich, dass Unternehmen vor allem zwei Dinge brauchen: Ausreichend Kapital und ein cleveres Management. Dass in den Vorständen nach den politisch motivierten Ablösen seit dem Jahr 2000 arg daneben gegriffen wurde, ist evident. Und kostet viel Geld und Arbeitsplätze.“

 

Schlusssatz und Conclusio: „Krisenzeiten zeigen, dass der Staat im Ernstfall einspringen muss. Dass er in guten Zeiten nur zuschauen kann, wie Private über die Börse die Gewinne einstreifen, ist ab nun nicht mehr einzusehen.“

 

So weit dieser bemerkenswerte Text mit wörtlich zitierter Kolumne Und ich bitte meine Kolleginnen und Kollegen von der SPÖ und von der Grünen Fraktion um Verständnis, dass ich die Frage nach dem Autor im Sinne des Verursacherprinzips der beschriebenen Zustände an die Volkspartei und an ihre damaligen Mehrheitsbeschaffer, die Freiheitlichen, richte: Stammen diese klugen Erkenntnisse 1.) von einem unverbesserlichen Alt-68er, 2.) vom jüngst in Wien weilenden Globalisierungskritiker Jean Ziegler, 3.) vom geläuterten ÖVP-Protegé und bestbezahlten ÖIAG-Vorstandsboss Dr Peter Michaelis oder von einem bürgerlichen Journalisten in einer ebenso bürgerlich-konservativen Tageszeitung? (GR Dr Wolfgang Aigner: War es vielleicht Che Guevara? – Heiterkeit bei der ÖVP.)

 

Der Che Guevara heißt Reinhard Göweil, und der Artikel findet sich auf Seite 1 des „Kurier“ vom 10. November dieses Jahres. Diese richtige Antwort sollte sich die ÖVP einrahmen, und wenn sie neuerlich den Verkauf öffentlichen Eigentums begehrt, präventiv immer wieder durchlesen, damit Sie das Parlament und auch den Wiener Gemeinderat mit derartigen Ansinnen in Zukunft möglichst verschonen! (Beifall bei der SPÖ. – Zwischenrufe bei der ÖVP.)

 

Was sind nun also die Schlussfolgerungen für die Wiener Kommunalpolitik? Was ist das ceterum censeo, aus dem wir unsere persönlichen Lehren ableiten müssen? – Es war und ist richtig, die Erledigung lebensnaher Aufgaben der Daseinsvorsorge keinesfalls der so genannten Markteffizienz zu überlassen. Es war und ist richtig, Dienstleistungen von allgemeinem Interesse wie die Energie- und Wasserversorgung, das Bildungswesen, die Abfallwirtschaft, das Gesundheitswesen und den öffentlichen Personennahverkehr tunlichst in der Zuständigkeit dieser Stadt und unter der politischen Kontrolle des Gemeinderates zu belassen. „Mehr privat, weniger Staat", meine Damen und Herren, hat sich vielfach als Irrweg herausgestellt! Dank der Sozialdemokratie ist der Stadt Wien eine derartige Verwerfung und sind ihr solche Rückschläge und bösen Überraschungen erspart geblieben. Und ich garantiere Ihnen: Das wird so bleiben! (Beifall bei der SPÖ. – Lebhafte Zwischenrufe bei der ÖVP.)

 

Ihr Schreien zeigt nur, welch elementares Unwohlsein Sie anwandelt und in welchem Argumentationsnotstand Sie sich heute befinden! (Zwischenruf von GR Dipl-Ing Roman Stiftner.) Jetzt wurde Ihnen das wahre Gesicht der von Ihnen betriebenen Wirtschaftsphilosophie präsentiert! Damit müssen Sie leben! (Zwischenruf von GR Günter Kenesei. – Weitere lebhafte Zwischenrufe bei der ÖVP.)

 

Hoher Gemeinderat! Sobald sich der Nervenpegel

 

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