Gemeinderat,
32. Sitzung vom 24.09.2003, Wörtliches Protokoll - Seite 51 von 63
mich daran erinnert, dass es da ein Theaterstück von Felix Mitterer gibt. Dieses Theaterstück trägt den Titel "Sibirien – ein Monolog". Es wurde in den späten 80er Jahren geschrieben, von Peymann am Wiener Burgtheater aufgeführt. Offensichtlich hat der damals schon gewusst, es könnte für Wien ein aktuelles Thema sein. Es handelt von einem alten Mann, der in Form eines Monologes über seine Behandlung in einem Pflegeheim räsoniert.
Felix Mitterer sagt uns nicht, wo das Pflegeheim
steht. Beim nochmaligen Durchlesen bin ich der Meinung: Dieses Pflegeheim
könnte durchaus in Wien stehen.
Und dieser alte Mann erinnert sich während seines
Aufenthaltes in diesem Pflegeheim an Sibirien, wo er einst in
Kriegsgefangenschaft war. Und dieselbe Kälte, die dieser alte Mann in Sibirien
verspürt hat, verspürt er nun in diesem Pflegeheim. Verspürt er auch in der
Gesellschaft. Und er versucht, gegen diese Kälte anzukämpfen und wenigstens in
Würde zu sterben.
Und in einer Passage dieses Theaterstückes berichtet
dieser alte Mann über seinen letzten verzweifelten Versuch, an den Zuständen in
diesem Pflegeheim was zu ändern. Ein letzter verzweifelter Versuch, der darin
bestanden hat, dass er an den Bundespräsidenten einen Brief geschrieben hat.
Und in diesem Brief an den Bundespräsidenten beschreibt er die Zustände in
diesem Pflegeheim folgendermaßen:
"Die Heiminsassen" – schreibt er –
"werden vernachlässigt, narkotisiert, verspottet und geschlagen. Ans Bett
geschnallt, ins Gitterbett gesperrt, der Menschenwürde beraubt. Akuter
Personalmangel, daraus resultierend mangelnde Pflege. Wir bekommen alle die
Pest. Eine Wolke von Gestank über dem ganzen Heim. Pestgestank, Leichengestank,
Gruftgestank. Kommen Sie her und überzeugen Sie sich selbst, Herr
Bundespräsident."
Das ist ein SOS-Ruf. Und diese SOS-Rufe von
Pfleglingen, die sind in dieser Stadt durch Jahre hindurch erklungen. Und
niemand hat sie gehört.
Und daher, meine Damen und Herren von der SPÖ, daher,
Frau Gesundheitsstadträtin, daher, Herr VBgm Rieder als Vorgänger der Frau
Gesundheitsstadträtin, und daher, Herr Bürgermeister, als Verantwortlicher, als
Letztverantwortlicher für diese Zustände in Wien, haben Sie es zu verantworten,
dass die Schilderungen Felix Mitterers in seinem Theaterstück
"Sibirien" aus heutiger Wiener Sicht nicht als literarische
Übertreibungen verstanden werden können, sondern eigentlich als die
Beschreibung der aktuellen Zustände in den Wiener Pflegeheimen. (Beifall bei
der FPÖ.)
Und wenn daher in Wien Patienten um 15 Uhr
Nachtruhe befohlen wird, so ist das keine Parabel aus Felix Mitterers
"Sibirien", sondern Realität im größten Pflegeheim Wiens, in Lainz.
Wenn dort trotz strahlendem Sonnenschein am Nachmittag den Patienten Nachtruhe
verordnet wird, so ist das kein Theaterstück Felix Mitterers, es ist die
Realität in Wien. Wenn selbst gesunde Heimbewohner vom Pflegepersonal gezwungen
werden, Windeln zu benutzen, statt sie auf die Toilette zu führen, dann ist das
kein dramatischer Akzent im Theaterstück Felix Mitterers, es ist Realität in
Lainz. Wenn Patienten nicht gebadet werden, nicht gepflegt werden, mit
ungekürzten Fingernägeln und Fußnägeln angetroffen werden, mit geschwollenen
Füßen vorgefunden werden, dann ist das nicht Felix Mitterer mit
"Sibirien", dann sind das die Zustände in Lainz. Wenn Patienten drei
Stunden im Rollstuhl warten müssen, ehe sie auf die Toilette gehen dürfen, dann
ist das leider traurige Realität in Wien.
Und daher halten wir zu Recht fest, dass die
Gesundheitspolitik der SPÖ in den letzten Jahrzehnten in Wien versagt hat. Der
Herr StR Rieder hat versagt, die Frau StRin Pittermann hat versagt und der Herr
Bgm Häupl trägt dafür die Letztverantwortung. (Beifall bei der FPÖ.)
Und diese SOS-Rufe von Pfleglingen, die um
15 Uhr zu Bett geschickt werden, bei strahlendem Sonnenschein, diese
SOS-Rufe von Pfleglingen, die in Windelhosen gezwungen werden, die SOS-Rufe von
Pfleglingen, die nicht gebadet und nicht gewaschen werden, die interessieren
den Herrn Bürgermeister offensichtlich keinen Deut. Er überhört sie
systematisch und konsequent.
Und welch anderer trauriger Beweis dafür könnte noch
erbracht werden als der, dass die Reihen der SPÖ zu früher Stunde am Nachmittag
bei diesem ernsten Thema eigentlich völlig gelichtet sind und der Herr
Bürgermeister seit der müden Rechtfertigung seiner Gesundheitsstadträtin heute
morgen diese Sitzung des Gemeinderates, diese Sondersitzung des Gemeinderates
konsequent und notorisch ignoriert und schwänzt.
Ich frage mich, meine lieben Freunde von der SPÖ: Wie
lange wollen wir uns das noch gemeinsam bieten lassen, dass der Bürgermeister
diese wichtige Diskussion in diesem Haus ganz einfach ignoriert und lieber dort
draußen im Buffet einen weißen G'spritzten trinkt, als sich mit den SOS-Rufen
der Pfleglinge in Wien ernsthaft auseinandersetzen zu müssen? (Beifall bei
der FPÖ.)
Also ich frage mich, wie tief Sie in Ihrer
Selbstachtung noch sinken müssen, ehe Sie ihrem Bürgermeister einmal erklären,
dass es so nicht weitergeht.
Auch der Bürgermeister und gerade der Bürgermeister hat
die Verpflichtung, bei einem derartig ernsten Thema das Wort zu ergreifen, um
Ihnen und uns, uns allen zu erklären, wie er sich den Neustart der Pflege in
Wien vorstellt. (Beifall bei der FPÖ und ÖVP.)
Ich frage mich, wie lange es sich die Wienerinnen und
Wiener eigentlich noch gefallen lassen wollen, dass sich der Herr Bürgermeister
lieber bei der Weinlese am Kobenzl fotografieren lässt als bei einem
Lokalaugenschein in Lainz. (Aufregung bei der SPÖ.) Das ist die Realität
in Wien.
Ich habe den "KURIER"
von vor einigen Tagen in Erinnerung, der im Chronikteil auf der linken Seite
eine ganze Seite über Lainz berichtete, auf der rechten Seite war der Herr
Bürgermeister lachend im Weingut der Stadt Wien am Kobenzl abgebildet, wie er
dort mit eigener Hand die Trauben von der Rebe geschnitten hat.
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