Gedenksitzung
vom 10.03.2008 - Seite 2 von 10
Ich nehme an, dass gut 70 bis 75 Prozent der heute in Wien lebenden Wienerinnen und Wiener, aber auch Österreicherinnen und Österreicher diese Zeit nicht bewusst oder überhaupt nicht erlebt haben, daher sollte man auf die Aufarbeitung der Geschichte, auf das Bekanntwerden unserer Geschichte und deren korrekte Wiedergabe nicht verzichten, das Ernstnehmen auch in Zukunft.
Blenden wir zurück in das Jahr 1938. Besonders in
Europa, jedoch nicht nur dort, wird die Aggressivität der autoritären Regime
immer offensichtlicher. Adolf Hitler, seit fünf Jahren an der Macht, kann zwei
außenpolitische Triumphe feiern. Im März kann er Österreich dem Deutschen Reich
einverleiben und im Münchner Abkommen akzeptieren Frankreich und Großbritannien
im September den Einmarsch reichsdeutscher Truppen in die sudetendeutschen
Gebiete der Tschechoslowakei.
Ein weiterer beschämender unfassbarer katastrophaler
Nazi-Höhepunkt 1938 ist die so genannte „Reichskristallnacht" mit
ihren Morden und Zerstörungen. Der 9. beziehungsweise 10. November
ist ein erster besonders großer Höhepunkt der systematisch beginnenden
Judenverfolgung, die in fast perfekter Ausrottung mündet. Gleichzeitig laufen
die Vorbereitungen für einen Krieg auf Hochtouren.
Doch nochmals zurück zu den Märzereignissen in
unserem Land. Wir alle wissen, dass Österreich vor dem März 1938 mehrere
Jahre bereits kein demokratischer Staat mit einem demokratischen Staatsgefüge
war. Wir wissen, dass es aber sehr viele österreichische Regierungsmitglieder
gab, die keine Vereinigung mit dem Deutschen Reich wollten, dass es aber auch
einzelne Regierungsmitglieder gab, die sehr deutlich und offen in diesen Tagen
für den Anschluss eintraten. Einer davon war ein besonderes Beispiel und hat
dann auch in Österreich für kurze Zeit die Regierungsspitzenfunktion
übernommen. Ebenso wissen wir, dass die legalen Anschlussgegner, die es in der
Regierung gab, wahrscheinlich – und das ist historisch unbestritten – so lange
zögerten, um jenen Anschlussgegnern, die sich über mehrere Jahre bereits in der
Illegalität befunden haben, die Legalität zu ermöglichen, um verstärkt und
gemeinsam den Versuch zu unternehmen, sich gegen diese Bedrohungen der Nazis
zur Wehr zu setzen. Und so kam es in der Folge dessen zu den dramatischen
Ereignissen der ersten Märztage.
Am 1. März werden der „Deutsche Gruß“ und die
Hakenkreuz-Fahne in Österreich legal.
Am 9. März kündigt Bundeskanzler Schuschnigg
eine Volksbefragung zur Rettung der Unabhängigkeit für ein unabhängiges
Österreich für den 13. März an. Die österreichischen Nationalsozialisten,
die immer legal und deutlicher wurden, rufen ihre Anhänger zu Gegenaktionen
auf.
Am 11. März erlässt Hitler die militärische
Weisung für den Einmarsch, Beginn 12. März. Gleichzeitig wird ein
deutsches Ultimatum gestellt. Auf Grund dessen erfolgt der Rücktritt von
Schuschnigg als Bundeskanzler und der bisherige Innenminister, ein Vertrauter
des deutschen Systems, Dr Seyß-Inquart, bildet eine Übergangsregierung.
Am 12. März marschieren deutsche Truppen leider
ohne auf Widerstand zu stoßen – lassen Sie mir das als persönliche Bemerkung
sagen –, in Österreich ein. Noch am Abend spricht Hitler bei einer
Großkundgebung in Linz und am 13. März wird das Gesetz über die
Wiedervereinigung erlassen.
Am 14. März trifft Hitler in Wien ein und am
15. März kommt es zur berüchtigten üblen Großkundgebung auf dem
Heldenplatz, Seyß-Inquart wird zum Reichsstatthalter der Ostmark ernannt. Auch
hier eine persönliche Bemerkung: Wir sehen in diesen Tagen immer wieder
natürlich die Bilder mit den vielen Menschen, die dabei waren und jubelten. Was
wir nicht sehen, sind die vielen, die nicht gegangen sind, die es gewusst haben
und die eigentlich, im wahrsten Sinne des Wortes, weinten und wussten, was in
den nächsten Jahren auf die Menschen herankam.
Bereits am 12. März wird auch in Wien eine
Verhaftungswelle eingeleitet und in den Tagen danach folgen die Ersten, die den
Freitod wählten, weil sie für sich keine andere Zukunft zum Leben mehr sehen
konnten.
Am 1. April geht der erste der Transporte
politisch Verhafteter in das Konzentrationslager Dachau. In diesen Tagen
beginnen auch mit voller Intensität die menschenverachtenden Nazi-Aktivitäten,
vor allem gegen unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Und ich will es
gleich vorwegnehmen, die österreichischen Juden, aber auch die Roma und Sinti
und andere, die von den Nazis als minderwertig klassifiziert worden oder
andersartig dargestellt wurden, wurden in den folgenden sieben Jahren des
Faschismus, und dies nicht nur in Österreich oder Deutschland, nahezu
buchstäblich ausgerottet. Bei dieser Blutschuld waren auch viele Österreicher
im Extremmaß freiwillig mitschuldig. Eine Schande, die wir nicht weglöschen
können und auch nicht weglöschen wollen.
Im September 1939 begann der Zweite Weltkrieg.
Während dieser Zeit mussten etwa 800 000 Österreicher in die Deutsche
Wehrmacht einrücken, der größte Teil gezwungen und unfreiwillig, von ihnen
verlor nahezu die Hälfte dabei das Leben.
Bis Kriegsende wurden
100 000 Österreicherinnen und Österreicher in den
Konzentrationslagern der Nationalsozialisten angehalten und fast 20 000
von ihnen gingen dort auch zugrunde. Die geheime Staatspolizei folterte nahezu
weitere 20 000 Österreicher zu Tode, fast 3 000 Personen
wurden aus politischen Gründen hingerichtet.
1945, nach Ende des Zweiten Weltkrieges und des
Faschismus war die Bilanz grauenvoll.
Es
ist in der Tat wichtig: Die Geschichte, die Ereignisse, die Opfer und die
Patrioten dürfen niemals vergessen werden. Auf jeden Fall gibt es eine Lehre
für uns auch heute. Man darf nicht ermüden im Kampf gegen schleichenden
Faschismus, man darf nicht zulassen, dass Menschen bezüglich ihrer politischen
Überzeugung, ihrer Religion oder ihrer Herkunft herabgewürdigt
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